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April 2014

Ligugegl Teil II




Ligugegl II
(Line isch guet u git e gueti Luun)

Es gibt tatsächlich Hundehalter, die ihre Hunde aus rechtlichen Erwägungen an der Leine führen. Nicht, weil sie durch ein Leinenzwanggebiet (davon gibt es viele)((davon gibt es immer mehr)) pflügen und nicht von irgendeinem Aufpasserli erwischt werden möchten, der ihnen dann wie ein scharfer Hund eine Busse aufbrummt, die sie eben durch vorauseilende Paragraphenerfüllung vermeiden möchten, sondern aus ganz anderen, smarten Überlegungen: Ich Hund Leine, du Hund nicht Leine, mein Hund dein Hund beissen, du schuld, ich fein raus. Das gibts tatsächlich: Solche Paragraphenschlaumeier. Gesetzessmarties. Papperlapappparagraphisten.

Da hätten wir einen weiteren zentralen Grund, wieso Hunde an der Leine gehalten werden: Nein, nicht weil der Besitzer IQ 120+ hätte, sondern weil von dessen Hund gilt: He’s a biting monster!

Anekdote 3
Da war Neruda gerade mal 3 Jahre alt. Der Mann hatte behördliche Auflagen, die da lauteten: Maulkorb und Leine. Sein Boxer kam weit-und-breit-und-auch-ansonsten-führerlos in gestrecktem Galopp angepanzert, keine Anzeichen von Eskalation, er war schon auf der obersten Sprosse der Eskalationsleiter, auf dem Spitzli des Dreiecks, weit entfernt vom Flirt, zmitts im Fight. Neruda hat den Boxer übel zugerichtet, alles voll Blut, der Brustkorb ganz verbissen, und der Besitzer, der dann wie ein Halodri beenden wollte, was gar nicht hätte beginnen dürfen, wurde dann noch von seinem eigenen Hund so stark in die Hand gebissen, dass das Blut schäumte und man das Weisse vom Handknochen sah. Na bravo, alter Schwede, wie es heute im TV heisst. Merke: Diejenigen, die ihre Hunde aus wirklich triftigen rechtlichen Gründen an der Leine halten sollten, foutieren sich oft darum. Und wenn Neruda an der Leine gewesen wäre, hätte ich ihn spätestens dann, als der Boxer sich auf ihn stürzte, losgelassen. Vermutlich schon früher. Paragraph hin, Paragraph her.

Ich verfalle ins Träumen, wenn ich sehe, wie Neruda antritt, wie er schnell wie ein Blitz durch die Wiesen fegt. Wie die Luft stiebt hinter ihm, wie sie wirbelt. Manchmal rennt er um des Rennens willen. Er hat Freude am Rennen, er lacht dann, judihui, ich renne, ich renne, ich renne, der Wind umstreicht meine Flatterohren, er lacht wirklich, ich sehe es jeweils ganz genau, er lacht vor lauter Rennglück – – – Noch schöner ist nur, wenn er durchs Wasser pfeilt, lautlos, elegant wie ein Otter, tiefliegend, pfeilschnell, und die Sonne ist am Aufgehen, und der Murtensee ist noch menschenleer, und das Sonnenlicht bricht sich auf seinen nussbraunen Augen, sie leuchten so hell, und ich schwimme neben ihm, ungelenk und langsam im Vergleich zu ihm, aber so glücklich wie er – – – zwei pflotschnasse Glückliche in der Krähenbucht.

Oh ja, Hunde kennen das Wort Freiheit, sie wissen haargenau, was das ist, wie es sich anfühlt, und wenn sie rennen, sind sie dem, was es ist, ganz nah. Versucht mir das Gegenteil zu beweisen, versucht es doch.

Wer mit einem Hund lebt und sich keine Gedanken über «die Freiheit» macht, über seine und die eigene, sollte keinen Hund halten dürfen. Erlasst ein Gesetz, Behörden, und verbietet Personen, die nicht den geringsten philosophischen Ansatz zu ihrer Hundehaltung haben, das Leben mit Hunden. Erfindet einen Wind, Physiker, der den Menschen solche Gedanken in das Gehirn bläst – – – Was gibt es Schrecklicheres, als ausschliesslich praktische Gedanken zum Hundeanderleinehalten zu haben, zu Hunden überhaupt zu haben, was gibt es Schrecklicheres für die Hunde?

Hunde an der Leine sind nicht unter Kontrolle, sie sind an der Leine. Das ist ein Unterschied. Überlegt es euch gut. Überlegt den Unterschied gut. Er ist fein, er ist klein, aber er ist.

Wenn du einen Hund an der Leine nicht mehr als unnatürlich empfindest, wenn das Bild von diesem Tier an diesem Seil dir gar nicht mehr auffällt, ins Auge sticht, dich wenigstens ins Stocken bringt, wenn du das für das Normalste der Welt hälst, das Angeleintsein, dann – – –

Gerade habe ich wieder Neues erfahren, wunderbare Dinge, die ich noch nicht wusste, über die Sinnesleistungen der Hunde, natürlich die Nase (Pheromone, Allomone, Kairomone), über die Augen, den siebten Sinn, über das grossartige Seelenspektrum der Caniden1 – beweist mir das Gegenteil, beweist mir, dass es nicht so ist – – –

Und dann begegnen mir wieder so Leinenfraktionisten – die Unbeirrbaren; die, die es schon immer wussten, es immer wissen, es immer wissen werden; die, die immer die besseren Argumente auf ihrer Seite zu haben meinen; die, die nur ein müdes Lächeln übrig haben für jene, die anders denken wollen und dabei in weite Gelände geraten, wo nichts gesichert ist; die, die nie, nie, nie den Blickwinkel wechseln, eine andere Perspektive einnehmen – diese armen Tröpfe – – –), die praktischen Grund um praktischen Grund anführen (die ich alle abnicke, ja, ja, ja), herunterbeten, und dann gehe ich mit Neruda an einen Ort, wo es keine solchen Leinenfraktionisten hat, und lasse ihn rennen und rennen und rennen, und lese das Glück auf seinem Gesicht, und er liest mein Glück, das aus seinem heraus entsteht, und er flüstert mir zu: Ich weiss, du würdest mitrennen, wenn du könnntest, ich weiss, dass du es nicht kannst, mach dir nichts draus, ich renne auch für dich, ich renne auch für dich, gelt, wir sind frei, frei, frei – – –

Rennen ist nur ein Platzhalter für «dorthin gehen dürfen, wohin man gehen will» (ich vermied es zu sagen: dorthin zu gehen, wo es einen hinzieht).

Glaubt weiter an das Glück eurer Hunde, Ligugeglisten, ich werde es euch nicht streitig machen und meinen Hund anleinen, wenn ihr kommt, damit ihr glaubt, wir seien alle von derselben Fraktion, aus demselben Holz geschnitzt. Das sind wir nicht. Ich bin aus diesem Holz:

you may not agree, you may not care but
if you are holding this book you should know
that of all sights I love in this world –
and there are plenty – very near the top of
the list is this one: dogs without leashes.2




1 HARE, Brian & WOODS, Vanessa: The genius of dogs: how dogs are smarter than you
think, New York 2013 (Penguin Group)

2 OLIVER, Mary: Thirty-five dog songs, New York 2013 (Penguin Press)




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