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Alles, was Sprache ist

Norbert Gstrein

Am 4. März las Norbert Gstrein aus seinem Roman «Die ganze Wahrheit».

Ich holte ihn ab in der «Lindenegg», er sass im wintergartenhaften Vorbau. Wir tranken einen Wein vom See, den er anständig, geradeheraus, mackenlos fand.

Morgen würde er in Thun lesen, anlässlich des Thuner Literaturfestivals.

Und übermorgen als «Writer in Residence» nach St. Louis / Missouri fliegen, für zwei Monate.

Wir sprachen über Amerika. Draussen wurde es dunkel. «Langsam» würde sich als Adverb dazugehören, aber es wurde einfach dunkel.

Er wusste gut Bescheid über die «Schweizer Literatur», die es, waren wir uns einig, so nicht gibt. Wir sprachen über Dinge, die es so nicht gibt, Amerika und die Schweizer Literatur.

Ich hatte den Roman innert drei Tagen gelesen, und eine Einführung geschrieben. In einer Kritik hatte ich gelesen, er habe das erste Kapitel dort und dort «mit einer harten Diktion» gelesen.

In Hamburg ist literarisch erstaunlich wenig los, meinte er. Dabei sei das doch eine Stadt, die geradezu klassisch darauf ausgerichtet sein müsste. Dabei wäre das doch eine Stadt etc.

Am Veranstaltungsort fanden sich gerade mal 12 Leute ein. Habitués zumeist. Les absents ont toujours etc. Toujours a toujours un etc. Eine russische Cellistin im Kongresshaus, Sportwochen – wenig Publikum hier. In Biel ist literarisch erstaunlich viel los.

Im Roman geht es um eine Verlegerin, welche die Wahrheit usurpiert. Sie biegt und bricht sich die Welt zurecht, wie es ihr und nur ihr passt. Wahr ist nicht, was wahr ist, wahr ist, was die Verlegerin als wahr definiert. In den Romanen von Norbert Gstrein geht es um «solche Dinge» – und um die Verheerung, die solche Zurechtbieger anrichten.

Nein, Lyrik habe ich nie geschrieben, sagt er, das liegt mir nicht.

St. Louis soll eine gefährliche Stadt sein, auch für amerikanische Massstäbe. Was heisst gefährlich?

Er isst Capuns, wie ich. Es sind «Bündner Wochen». Das Essen liegt ihm.

Natürlich ist seine Wirklichkeit verstrickt mit jener im Roman, oder besser, oder nein, anders: die Wirklichkeit im Roman ist verstrickt mit seiner. Er spricht nicht schlecht über die Romanfiguren. Er spricht also nicht schlecht über die Figuren, die – – – Modell standen?

Es ist ein angenehmer, relaxter Abend. Wie wenn das Modern Jazz Quartet im Wintergarten des Financial Centers in New York spielen würde. Als das Modern Jazz Quartet im Wintergarten des Financial Centers in New York spielte, lehnte ich mich zurück und verfiel in entspanntes, ungerichtetes Träumen. Als würde man reiten und sich ausschliesslich auf das Lenken des Pferdes konzentrieren.

Ich wäre gern in einem als «italian» deklarierten Restaurant in St. Louis. Das Wort «Missouri» kann man wunderbar rollen, texanisch. Wir würden Fettuccine essen, einen mackenlosen Wein aus Kalifornien trinken, und kein Wort über Literatur sprechen. Oder nur sehr wenig.

Ich brachte ihn ins Hotel zurück. Du hast mir die Segel gesetzt mit Deiner Einführung, sagte er, es war dann ein Leichtes, aus dem Hafen zu fahren. Auf das glitzernde Meer hinaus.

Ich ging nach Hause und überlegte an meinem Roman herum, in dem einer versucht, der Literatur zu entgehen.
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